Preisrisiken aus Ukraine-Krise: ungewöhnliches Wagnis i.S. VOB/A (VK Westfalen)
Die fehlende Vorgabe von Stoffpreisgleitklausen kann in aktuellen Bauvergaben zur gegen § 7 EU VOB/A verstoßenden Überbürdung eines ungewöhnlichen Wagnisses auf die Bieter führen. Schlimmstenfalls kann ein solches Defizit die Zurückversetzung der Vergabe vor Versand der Unterlagen zur Folge haben. Auch für die Auskömmlichkeitsprüfung in diesen Zeiten sind besondere Vorgaben zu berücksichtigen. Darauf weist die Vergabekammer Westfalen in einer aktuellen Entscheidung vom 12.07.2022 (VK 3-24/22) hin.
Ablauf der Angebotsfrist 4.3.2022 – Kalkulationsgrundlagen Angebot?
Konkret war zu entscheiden, ob ein Angebot, das am 4.3.2022 und damit kurze Zeit nach Ausbruch der Ukrainekrise durch Kampfhandlungen (24.02.2022) abgegeben wurde und im Vergleich zu allen anderen Angeboten um etwa 20 % niedriger ausfiel, ausgeschlossen werden konnte. Dies hatte der ausgeschlossene Bieter gerügt und dann ein Nachprüfungsverfahren eingeleitet. Ein anderes Zuschlagskriterium als den Preis hatte es nicht gegeben.
Eine von der Vergabestelle geforderte Erklärung zur Bestätigung der Auskömmlichkeit des von ihm abgegebenen Angebots hatte der Antragsteller (wie die ebenfalls angefragten Zweit- und Drittbieter) nicht abgegeben und war dann ausgeschlossen worden.
Ausschluss unter Heranziehung einer nachgebesserten Kostenschätzung
Die Vergabestelle hatte vorher ihre Kostenschätzung vom November 2021 mit Blick auf die Ukrainekrise nach Ablauf der Angebotsfrist „nachgebessert“. Auch auf dieser Grundlage hatte sie das Angebot des Antragstellers offenbar als „ungewöhnlich niedrig“ eingestuft und deshalb die vorgenannte Bestätigung verlangt.
Kritik an der Anforderung einer „Auskömmlichkeitsbestätigung“
Der Antragsteller hatte insoweit nicht nur die Bestätigung seines Angebots als „auskömmlich“ verweigert, sondern vielmehr zusätzliche Zweifel an der fehlenden Angemessenheit der Preise durch Verweis auf die Erforderlichkeit der Anwendung von Stoffgleitklauseln entsprechend der dahingehenden Rundschreiben des Landes- und Bundesministeriums zur Berücksichtigung von Stoffgleitklauseln aufgrund der Ukraine-Krise wohl noch eher bestärkt. In seiner Rüge hatte der Antragsteller den Blick unter Bezugnahme auf die Rundschreiben auf die dort erwähnte Zurückversetzung laufender Verfahren auf den Stand vor Angebotsabgabe gelenkt.
Ukraine-Rundschreiben keine zwingende Vorgabe
Die Vergabekammer führt zunächst aus, dass sie den Rundschreiben, nach denen die Anwendung von Gleitklauseln vorgegeben worden sei, nach ihrer Einschätzung keine bindende, vergaberechtliche Wirkung entfalten können. Sie weist außerdem darauf hin, dass der nachgebesserten Kostenschätzung für die Preisprüfung und die Frage, ob ein Angebot als ungewöhnlich niedrig näher aufzuklären ist, keine Bedeutung haben könne. Belastbare Kostenschätzungen sollen vielmehr spätestens bis Ablauf der Angebotsfrist vorliegen.
Ansonsten sollen Missbrauchsrisiken zu befürchten sein. Die bloße Abfrage einer Bestätigung der Auskömmlichkeit wurde schließlich für unzureichend und nicht als belastbare Preisprüfung eingestuft (siehe zu den verfahrensrechtlichen Anforderungen an eine den Vorgaben entsprechende Auskömmlichkeitsprüfung auch den Beitrag von Wenzel in dieser Ausgabe).
Risiko Zurückversetzung in die Zeit vor Angebotsabgabe bei fehlenden Gleitklauseln
Ungeachtet dessen ist die Vergabekammer letztlich der Einschätzung des Antragstellers gefolgt und hat der Vergabestelle aufgegeben, das Verfahren in den Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen. Begründet wurde dies damit, die Vergabestelle habe dem Antragsteller ein ungewöhnliches Wagnis überbürdet und verletze somit das bieterschützende Gebot gemäß § 7 Absatz 1 Nummer 3 EU VOB/A. Als unzumutbar soll sich danach eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation herausstellen, wenn Preis- und Kalkulationsrisiken über das Maß, das Bietern typischerweise obliegt, hinausgehen.
Unbeachtlich soll dagegen die Beantwortung der Frage sein, ob das Wagnis vom Auftraggeber selbst oder weder vom Auftragnehmer beherrschbar ist – was für die Ukraine-Krise wohl jeweils klar zu verneinen wäre. Im Falle der Zuschlagserteilung müsste die Antragstellerin das Risiko von erheblichen Preissteigerungen in Folge der Kampfhandlungen tragen, deren Umfang bei Angebotsabgabe nicht zu ermitteln waren. Hervorgehoben wurde, dass die Preissteigerungen (gemeint sind wohl Kostensteigerungen) als nicht nur kurzfristig und von singulärer Natur, sondern längerfristig und stetig ausfallen.
[GGSC] berät Vergabestellen auch bei bereits laufenden Verfahren zur möglichst rechtssicheren Berücksichtigung der Kostenrisiken von potenziellen Bietern aufgrund der Ukraine-Krise.