Äußerste Dringlichkeit in Zeiten von Corona schließt Vergabeverfahren nicht gänzlich aus
Die Dringlichkeit einer Beschaffung allein rechtfertigt es noch nicht, von einer Vergabe nach wettbewerblichen Grundsätzen abzusehen.
Auch bei einer sog. Notvergabe sind grundsätzlich mehrere Angebote einzuholen. Es soll dann ein „Wettbewerb light“ ermöglicht werden. Eine fehlerhafte „konkurrenzlose Direktbeauftragung“ aufgrund von Dringlichkeit hat die Unwirksamkeit des Vertrags zur Folge. Dies veranschaulicht eine aktuelle Entscheidung des OLG Rostock.
Beschaffung von Corona-Tests
Das OLG hatte sich in seiner Entscheidung vom 9.12.2020 mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Beauftragung eines Unternehmens durch das Land Mecklenburg-Vorpommern zur Durchführung von anlasslosen Corona-Tests in Alten- und Pflegeheimen gegen die wettbewerbsrechtlichen Grundsätze des Vergaberechts verstößt – auch wenn eine Dringlichkeit nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV vorliegt, jedoch gänzlich auf die Einholung weiterer Angebote verzichtet wird.
Dem Vertragsschluss war ein Hinweis per E-Mail durch die spätere Beschwerdeführerin vorausgegangen, in der sie dem Land die Durchführung solcher Corona-Tests formlos anbot. Die Auftragnehmerin hatte sich ebenfalls zuvor per E-Mail mit einem solchen Angebot an das Land gewandt.
Äußerste Dringlichkeit in Zeiten von Corona
Das Gericht sah die Voraussetzungen von § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV als erfüllt an. Dazu stellte es maßgeblich darauf ab, dass die Testungen notwendig waren, um die Alten- und Pflegeheime ab Mai 2020 wieder öffnen zu können. Die äußerste Dringlichkeit war darin zu sehen, dass die Heimbewohner schnellstmöglich aus ihrer Isolation herauskommen sollten. Dabei räumt das Gericht dem öffentlichen Auftraggeber einen Einschätzungsspielraum ein, ab wann konkret ein Beschaffungsbedarf besteht. Politische Abstimmungsprozesse können dabei berücksichtigt werden. Das Gericht stellt sich damit auch hinter die Einschätzung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, welches die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV als erfüllt ansah, wenn kurzfristige Beschaffungen zur Bekämpfung des Corona-Virus notwendig sind.
Dringlichkeit schließt Wettbewerb nicht automatisch aus
Das Gericht stellt zwar fest, dass in diesem Fall ein reguläres Vergabeverfahren – selbst bei Verkürzung sämtlicher Fristen – nicht möglich war. Eine Direktvergabe, also eine Vergabe ohne Einholung weiterer Angebote (sog. Notvergabe), ist jedoch nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit, insbesondere der Erforderlichkeit möglich. Dabei kann sich der öffentliche Auftraggeber nicht darauf berufen, dass er wegen Personalmangels weitere Angebote nicht einholen konnte. Vor allem ist eine Direktvergabe aber unverhältnismäßig, wenn dem Auftraggeber ein anderer potentieller tauglicher und zudem auch erkennbar interessierter Anbieter bekannt ist.
Die Nichteinholung weiterer Angebote führte in dem zu entscheidenden Fall zur Unwirksamkeit des Vertrags nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB. Nach dem Sinn und Zweck will dieser umfassend eine „heimliche Vergabe“ verhindern, sodass es nicht nur formal auf die unterbliebene Veröffentlichung einer Bekanntmachung ankommen kann. Der § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB ist laut Gericht weit zu verstehen, um dem Wettbewerbsgedanken ausreichend Rechnung zu tragen.
Hinweis für die Praxis
Gerade in Zeiten von Corona ist diese Entscheidung von großer praktischer Bedeutung. Die Pandemie wird auch weiterhin die Frage nach der Dringlichkeit öffentlicher Beschaffungen und deren Konformität mit dem Vergaberecht aufwerfen. An der Voraussetzung der „äußersten Dringlichkeit“ dürfte eine Beschaffung zur Bekämpfung des Corona-Virus eher nicht scheitern. Ein Automatismus für eine Direktvergabe in Fällen der „äußersten Dringlichkeit“ gibt es indes nicht. Grundsätzlich müssen weitere Angebote eingeholt werden. Dabei ist von besonderer Bedeutung, ob potentielle Auftragnehmer dem Auftraggeber bekannt sind. Personalmangel in Behörden kann jedenfalls die Nichteinholung von Angeboten nicht rechtfertigen.