EuGH: Transparenz oder Vertraulichkeit – was überwiegt?
In nahezu allen Nachprüfungsverfahren stellt sich die Frage, in welchem Umfang dem Beschwerdeführer Einblick in die Angebotsinhalte der weiteren Bieter zu gewähren ist. Die Konfliktlage ist dabei klar: Während der Beschwerdeführer zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes eine umfassende Offenlegung für erforderlich erachtet, berufen sich die übrigen Bieter regelmäßig darauf, dass nahezu alle Angaben in ihren Angeboten Geschäftsgeheimnisse sind und nicht offengelegt werden dürfen.
Der EuGH hat jetzt in einer aktuellen Entscheidung betont, dass es einer umfassenden Abwägung der Erfordernisse der Transparenz und des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes gegen den Schutz der Vertraulichkeit von schützenswerten Informationen bedarf. Außerdem hat er sehr praxisrelevante Hinweise gegeben, wie in Einzelfällen – etwa durch teilweise geschwärzte Informationen – jedenfalls Zugang zum wesentlichen Inhalt von Informationen gewährt werden kann.
Geschäftsgeheimnisse alleine kein geeignetes Abgrenzungskriterium
In seiner Entscheidung vom 17.11.2022 (Rs. C-54-21) stellt der EuGH zur polnischen Rechtslage zunächst klar, dass ein nationales Vergabegesetz zulässigerweise zur Abgrenzung des Umfangs der Pflicht zur vertraulichen Behandlung von im Vergabeverfahren erhaltenen Informationen auf den Begriff „Geschäftsgeheimnis“ abstellen kann. Dabei darf der nationale Gesetzgeber aber nicht stehen bleiben, sondern er muss den öffentlichen Auftraggebern auch darüber hinaus gestatten, die Offenlegung von Informationen zu verweigern, wenn hierfür legitime Gründe bestehen.
Ob solche Gründe vorliegen, bedarf einer umfassenden Abwägung der widerstreitenden Gesichtspunkte – Transparenz im Vergabeverfahren einerseits und unverfälschter Wettbewerb andererseits. Es genügt diesen Anforderungen jedenfalls nicht, die Offenlegung alleine mit dem Hinweis zu verweigern, dass ein Bieter selbst eine Information als Geschäftsgeheimnis bezeichnet.
Leitlinien des EuGH
In dem vom EuGH entschiedenen Vorabentscheidungsersuchen des polnischen Gerichts waren einem Beschwerdeführer Informationen zu Referenzen, zur Identität und zu den beruflichen Qualifikationen des für die Ausführung des Auftrags vorgesehenen Personals und von Unterauftragnehmern sowie zur Konzeption der Leistungserbringung verweigert worden.
Der EuGH hält folgendes Vorgehen des Auftraggebers für angezeigt:
- Zunächst müsse geprüft werden, ob diese Informationen einen wirtschaftlichen Wert haben, der sich nicht auf den fraglichen Auftrag beschränkt, so dass ihre Offenlegung berechtigte geschäftliche Interessen oder den lauteren Wettbewerb beeinträchtigen könne.
- Falls kein wirtschaftlicher Wert bestehe, könne die Herausgabe jedenfalls dann abgelehnt werden, wenn diese den Gesetzesvollzug behindern würde oder sonst einem öffentlichen Interesse zuwiderliefe.
- Falls hiernach ein vollständiger Zugang zu den Informationen ausscheide, müsse jedenfalls ein Zugang zum „wesentlichen Inhalt“ der bestreffenden Information gewährt werden
In welchem Umfang hiernach Einsicht in Informationen von Mitbewerber zu gewähren ist, hängt von einer Prüfung sowie Abwägung im Einzelfall ab. Nach dem EuGH wird in Bezug auf personenbezogene Informationen eine Verweigerung eher zu rechtfertigen sein, als in Bezug auf unternehmensbezogene Angaben. In die Abwägung könne auch eingestellt werden, ob eine Veröffentlichung die Möglichkeiten an der zukünftigen Teilnahme am Wettbewerb einschränke.
Akteneinsichtsrechte nach § 165 GWB
Die Frage des zu gewährenden Umfangs einer von Verfahrensbeteiligten geforderten Akteneinsicht tritt in der Regel erst in Nachprüfungsverfahren auf. Nach § 165 Abs. 2 GWB entscheiden hierüber die Vergabekammern. Die vom EuGH nunmehr entwickelten Leitlinien zur Abwägung werden zukünftig zu berücksichtigen sein. Alle Bieter und Auftraggeber, die meinen, Versagungsgründe im Sinne von § 165 Abs. 2 GWB lägen vor, sind gut beraten, hierzu umfassend vorzutragen. Nur so wird die Vergabekammer alle Gesichtspunkt in ihre Entscheidung einbeziehen können.