Newsletter Bau Dezember 2019

EuGH kippt das Mindestsatzgebot – erste Reaktionen aus der Rechtsprechung

Der Europäische Gerichtshof hat am 04. Juli 2019 entschieden, dass das seit Jahrzehnten bestehende Mindest- und Höchstsatzgebot der HOAI für Architektenhonorare gegen das Europarecht verstößt.

In der Zwischenzeit sind eine ganze Reihe von teils obergerichtlichen Entscheidungen ergangen, die sich mit den Auswirkungen des Urteils auf laufende Rechtsstreitigkeiten von Planern und Auftraggebern beschäftigen. Dabei zeigt sich, dass die Meinungen über die Konsequenzen aus der EuGH-Entscheidung auch unter OLG-Richterinnen und Richtern ganz erheblich auseinandergehen. Die wichtigsten Entscheidungen stellen wir Ihnen in aller Kürze vor.

OLG Celle, Urteil vom 17. Juli 2019 – 14 U 188/18 –

Das OLG Celle stützte als erstes Obergericht eine Entscheidung maßgeblich auf das Urteil des EuGH. Ein Architekt klagt Resthonorar aus einem Vertrag mit Pauschalpreis-Abrede ein. Der Bauherr wehrt sich mit dem Argument, dass das Pauschalhonorar bereits oberhalb der Höchstsätze liege und eine Nachforderung daher ausgeschlossen sei. Das Landgericht hatte noch eine Überschreitung der Höchstsätze festgestellt und die Klage abgewiesen. Nicht so das OLG Celle: Weil das Europarecht einen sogenannten Anwendungsvorrang besitze, dürften deutsche Gerichte die hiergegen verstoßenden Höchst- und Mindestsatz-Regelungen der HOAI nicht mehr anwenden. Es komme nach der (äußerst knapp begründeten) Auffassung des OLG Celle ausschließlich auf die vertraglichen Abreden an, und zwar auch dann, wenn das danach vereinbarte Honorar gegen die preisrechtlichen Vorgaben der HOAI verstoße.

OLG Hamm, Urteil vom 23.07.2019 – 21 U 24/18 –

Das OLG Hamm trat der Auffassung des OLG Celle nur kurze Zeit später entgegen und entschied, dass die Höchst- und Mindestsätze der HOAI nach wie vor Gültigkeit besitzen. Hier war der Fall genau umgekehrt: Ein Ingenieur klagte zusätzliches Honorar ein, weil die mit dem Bauherrn vereinbarte Pauschale unterhalb des HOAI-Mindestsatzes lag. Das OLG Hamm beruft sich dabei auf den Grundsatz, dass Entscheidungen des EuGH in einem sogenannten Vertragsverletzungsverfahren nur den Mitgliedstaat (also die Bundesrepublik Deutschland) unmittelbar binden. Nationale Gerichte seien nach stetiger Rechtsprechung als Teil der Staatsgewalt zwar dazu verpflichtet, das nationale Recht europarechtskonform auszulegen. Eine europarechtskonforme Auslegung scheidet jedoch dann aus, wenn sie gegen den erkennbaren Willen des nationalen Gesetz- oder Verordnungsgebers verstieße. Das ist hier der Fall: Denn nach dem Gesetz zur Regelung von Ingenieur- und Architektenleistungen, das Grundlage für die HOAI ist, sind die Höchst- und Mindestsätze zwingend und dürfen nur im absoluten Ausnahmefall unter- oder überschritten werden. Die Entscheidung des EuGH stelle insofern keinen Ausnahmefall dar und eine europarechtskonforme Auslegung scheide folglich aus. Nach Ansicht des OLG Hamm ist das Preisrecht der HOAI also weiterhin verbindlich.

OLG Celle die Zweite, Urteil vom 14.08.2019 – 14 U 198/18 –

Nachdem die erste Entscheidung des OLG Celle noch äußerst knapp begründet war, sah sich das Gericht nach dem entgegenstehenden und umfangreich begründeten Urteil des OLG Hamm offenbar dazu genötigt, seinen Standpunkt in einer zweiten Entscheidung genauer auszuführen. Auch in diesem Fall ging es wieder um Honorarnachforderungen wegen einer die Mindestsätze unterschreitenden vertraglichen Vereinbarung. Nach Auffassung des OLG Celle müssen die nationale Gerichte das Urteil des EuGH unmittelbar umsetzen. Eine europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts oder gar eine Anpassung der HOAI durch den Gesetz- oder Verordnungsgeber sei schon dem Grunde nach nicht erforderlich. Dies folge aus einer Besonderheit der dem Urteil des EuGH zugrunde liegenden Dienstleistungsrichtlinie, die direkt für Rechtsbeziehungen zwischen Privaten gelte und gerade nicht nur die Mitgliedstaaten adressiere. Im Übrigen entspreche es auch dem ausdrücklichen Willen des Verordnungsgebers der HOAI 2013 die Vorgaben der europäischen Dienstleistungsrichtlinie einzuhalten.

Kammergericht, Beschluss vom 19.08.2019 – 21 U 20/19 –

Bemerkenswert ist hierbei, dass es sich bei der Entscheidung nicht um ein Urteil, sondern um einen sogenannten Hinweisbeschluss handelt. Derartige Beschlüsse werden in der Regel nicht veröffentlicht, sondern ergehen ausschließlich an die Prozessbeteiligten zur weiteren Vorbereitung der Verhandlung. Wird ein Hinweisbeschluss veröffentlicht, stellt dies immer ein Signal an die übrigen Gerichte dar, dass es um Grundsätzliches geht (zuletzt etwa auch beim Hinweisbeschluss des BGH im „Dieselskandal“).

So auch hier: Der Beschluss dürfte nicht nur das Ziel haben, die auseinandergehenden Rechtsauffassungen in den einzelnen Kammern des Landgerichts Berlin zu vereinheitlichen, sondern dürfte aufgrund der umfassenden rechtsdogmatischen Auseinandersetzung mit den insofern maßgeblichen europa- und verfassungsrechtlichen Grundlagen durchaus als Entscheidungshilfe für andere Gerichte verstanden werden. Das Kammergericht würdigt detailliert die Entscheidungen des OLG Celle, spricht sich im Ergebnis jedoch für die unveränderte Fortgeltung der Mindest- und Höchstsätze der HOAI aus. Sowohl nach dem Grundgesetz als auch nach dem Europarecht (!) komme eine unmittelbare Umsetzung des EuGH-Urteils nicht in Betracht. Die entgegenstehende Ansicht des OLG Celle verkenne insofern wesentliche Grundsätze der Rechtsanwendung, wie sie von dem EuGH, dem BVerfG und auch dem BGH in stabiler Rechtsprechung vorgegeben werden. Auch eine europarechtskonforme Auslegung sei nicht möglich, weil der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes zur Regelung von Ingenieur- und Architektenleistungen ein zwingendes Mindestpreisgebot geschaffen hat, das nicht „wegargumentiert“ werden könne; die Beweggründe des Verordnungsgebers bei Erlass der HOAI 2013 seien – so die unausgesprochene Botschaft – hingegen nicht von Interesse.

OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17.09.2019 – 23 U 155/18 –

Den vorläufigen Schlusspunkt in dem „Schlagabtausch“ der Obergerichte bildet ein Urteil des OLG Düsseldorf. Dieses stellt sich der Ansicht des Kammergerichts und des OLG Hamm entgegen und entscheidet, dass die Mindestsatz-Regelungen der HOAI nicht mehr angewendet werden dürfen. Genau wie das OLG Celle geht auch das OLG Düsseldorf dabei davon aus, dass die nationalen Gerichte das EuGH-Urteil unmittelbar umsetzen müssen und es keiner weiteren Umsetzungshandlung des Gesetzgebers bedarf. Leider hat das Gericht dabei die Chance vertan, sich mit den abweichenden Ansichten des Kammergerichts sowie des OLG Hamm im Detail auseinanderzusetzen und übt sich stattdessen in der hohen Tugend der knappen Begründung. Die gegenteiligen und vor allem europarechtlich begründeten Argumente für eine weitere Anwendbarkeit der HOAI-Mindestsätze werden mit nur wenigen Sätzen und unter Verweis auf den Anwendungsvorrang des EU-Rechts abgelehnt. Für den Rechtsanwender bleibt dies unbefriedigend.

Fazit

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird das Urteil des OLG Düsseldorf nicht das Ende des Meinungsstreits markieren. Bereits im Vorfeld der Entscheidung des EuGH haben sich andere Obergerichte zur Frage der Fortgeltung der Höchst- und Mindestsätze klar positioniert (z.B. OLG Dresden dagegen; OLG Naumburg dafür). Und erfahrungsgemäß dürften auch weiterhin sich bietende Gelegenheiten zur Akzentuierung des eigenen Standpunkts genutzt werden.

Gegen die Urteile des OLG Hamm und des OLG Celle wurde bereits Revision eingelegt (Az.: VII ZR 174/19). Nun muss also der BGH für eine einheitliche Rechtsanwendung in der Bundesrepublik sorgen. Ob dieser sich für oder gegen die Fortgeltung der Mindest- und Höchstsätze der HOAI im Verhältnis zwischen Privaten aussprechen wird, ist offen. Unseres Erachtens sprechen die besseren Argumente für die auch vom Kammergericht vertretene Auffassung, also für eine Honorarberechnung innerhalb des bisher zwingenden Honorarrahmens der HOAI. Bis zu einer Klärung durch den BGH hängt für Auftraggeber das Risiko von Honorarnachforderungen jedoch im Wesentlichen von geographischen Faktoren ab: in Sachsen und Niedersachsen sieht es für Auftraggeber derzeit gut aus, in Berlin, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen haben Planer (noch) die besseren Karten.

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