Newsletter Vergabe Oktober 2020

Die Grenzen des Amtsermittlungsgrundsatzes in Nachprüfungsverfahren

In einem Nachprüfungsverfahren erforscht die Vergabekammer den Sachverhalt von Amts wegen. So ist sie grundsätzlich auch zum Aufgreifen nicht geltend gemachter, sich aufdrängender Vergaberechtsfehler befugt.

Diesen bereits vom OLG Düsseldorf im Jahr 2008 aufgestellten Rechtssatz hat die VK Südbayern in ihrem Beschluss vom 19.06.2020 (Az.: 3194.Z3-3 01-20-6) wieder aufgegriffen. Im Ergebnis hat die VK dann zu Lasten der Antragsgegnerin aufgrund eines vom Bieter nicht gerügten vermeintlichen Vergaberechtsverstoßes, den die VK in der Unzulässigkeit der Nachforderung von Unterlagen sah, entschieden. Die Entscheidung begegnet über den konkreten Fall hinaus grundsätzlichen Bedenken.

Hintergrund der Entscheidung

Im Rahmen einer europaweiten Ausschreibung abfallwirtschaftlicher Dienstleistungen hatten die Bieter zum Nachweis ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit einen Nachweis einer Betriebshaftpflichtversicherung vorzulegen. Die Mindestanforderungen an die Versicherung wurden in der Vergabebekanntmachung konkretisiert. Als Nachweis forderte der Auftraggeber eine Bestätigung einer Versicherung oder einen Versicherungsschein. Der Auftraggeber erachtete es aber für gleichwertig, wenn der Bieter eine von einer Versicherung unterzeichnete Bereitschaftserklärung zum Abschluss einer entsprechenden Versicherung vorlegte.

Ein Bieter fügte seinem Angebot daraufhin sowohl eine Versicherungsbestätigung als auch eine Bereitschaftserklärung bei. Da sich aus der Versicherungsbestätigung nicht ohne Weiteres sämtliche Mindestanforderungen der Bekanntmachung ergaben und die Bereitschaftserklärung an einem formalen Mangel litt, sah sich der Auftraggeber zum Nachfordern eines entsprechenden Nachweises veranlasst. Dieses Vorgehen erachtete die VK für unzulässig und wertete es daher ohne vorhergehende Rüge durch einen Bieter als Vergaberechtsverstoß.

Unzulässige ungefragte Fehlersuche

Da das Nachprüfungsverfahren grundsätzlich als Antragsverfahren ausgestaltet ist, unterliegt es auch der Dispositionsmaxime. Das bedeutet, dass die Verfahrensbeteiligten den Gang des (Nachprüfungs-)Verfahrens, dessen Gegenstand, Einleitung und Ende bestimmen. Gleichzeitig bestimmt § 163 Abs. 1 Satz 1 GWB, dass der Sachverhalt von Amts wegen zu untersuchen ist, mithin also doch der Untersuchungsgrundsatz gilt. Dieser wird nach § 163 Abs. 1 Satz 2-4 GWB aber insoweit wieder eingeschränkt, als sich die Nachprüfungsinstanzen auf das beschränken können, was von den Beteiligten vorgebracht wird oder ihnen sonst bekannt sein muss (Satz 2). Weiterhin haben sie keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle vorzunehmen (Satz 3) und während ihrer Tätigkeit darauf zu achten, dass der Ablauf des Verfahrens nicht unnötigerweise beeinträchtigt wird (Satz 4).

Der Untersuchungsgrundsatz geht jedenfalls nicht soweit, dass die Akte nach weiteren Auffälligkeiten durchsucht werden kann, die von keinem Beteiligten vorgetragen wurden. Letztlich dient das Nachprüfungsverfahren der Verwirklichung subjektiver Bieterrechte und nicht der abstrakten Sicherstellung der Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens. Kurz gesprochen: Die Vergabekammer hat sich auf keine ungefragte Fehlersuche zu begeben. Daher wird mit guten Gründen vertreten, dass die Nachprüfungsinstanz bei Durchsicht der Akten auch bei nicht zu übersehenden weiteren Mängeln diese nur in das Verfahren einbeziehen kann, wenn es sich um offensichtliche und gravierende Vergabeverstöße handelt.

Die Entscheidung der VK Südbayern begründet somit schon in formaler Hinsicht erhebliche Zweifel, ob es sich um einen sich aufdrängenden gravierenden Vergaberechtsverstoß handelte, der von Amts wegen aufgegriffen werden darf.

Keine Nachforderung bei Vorlage alternativer Nachweise

Obwohl es sich bei der formal mangelhaften Bereitschaftserklärung um eine unternehmensbezogene Unterlage handelt, die grundsätzlich nachgefordert werden kann, erachtete die VK Südbayern die Nachforderung und Einbeziehung der Bereitschaftserklärung in die Angebotswertung für unzulässig, weil die zusätzlich vorgelegte Versicherungsbestätigung inhaltlich den Anforderungen der Vergabeunterlagen nicht entsprach und deshalb nicht hätte nachgefordert werden dürfen. Nach Auffassung der VK könne ein Bieter, der mehrere alternative Nachweise einreicht, seine Chancen wettbewerbsverzerrend verbessern, indem er sich bei der Nachforderung immer auf die formal fehlende Unterlage berufen könnte.

Allerdings verkennt die VK, dass es der Auftraggeber ausdrücklich auch für zulässig erachtet hatte, wenn der Bieter zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe über noch gar keine Versicherung verfügt und sich lediglich zum Abschluss einer entsprechenden Versicherung verpflichtet. Es widerspricht den vergaberechtlichen Prinzipien der Nichtdiskriminierung und Verhältnismäßigkeit, einen Bieter, der sich also überobligatorisch verhält – also mehr als das mindestens Geforderte vorlegt -, von dem Vergabeverfahren auszuschließen.

Entscheidung durch das OLG München

Aktuell befindet sich das Verfahren vor dem OLG München zur Entscheidung über die eingelegten sofortigen Beschwerden der Antragsgegnerin und der Beigeladenen. Mit einer Entscheidung wird im November gerechnet. Es bleibt abzuwarten, ob das OLG München die nach Auffassung von [GGSC] verfehlte Entscheidung der VK Südbayern bestätigt.

[GGSC] berät regelmäßig insbesondere öffentliche Auftraggeber bei der Konzeptionierung und Durchführung von Vergabeverfahren. Ferner vertritt [GGSC] Beteiligte bundesweit in Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern und Oberlandesgerichten, aktuell in Verfahren in Bayern, Hessen, Niedersachsen und Sachsen.

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